Hintergrund

Über den Roman (von Dr. Joachim Süss)

Joachim Süss, Dr. theol., lehrte Religionsgeschichte an den Universitäten Jena und Marburg sowie an verschiedenen Bildungseinrichtungen und war in verantwortlicher Position im Thüringer Kultusministerium tätig. Er hat zahlreiche Bücher und Beiträge veröffentlicht. 

Mit seinem autobiographischen Roman „Die Heimat der Wölfe“ hat der in Berlin lebende Maler, Therapeut und Lukas-Cranach-Preisträger von 2011, Raymond Unger, ein Buch vorgelegt, das es wirklich in sich hat. Es handelt von der Chronik seiner eigenen Familie und den Ursachen für den tragisch-frühen Tod vieler Familienmitglieder infolge untauglicher „Selbst-Reparationsversuche psychischer Schräglagen“ in der Nachkriegszeit. Es geht um Umsiedlerschicksale und Vertreibung aus dem Osten, Obdachlosigkeit infolge des sogenannten Hamburger Feuersturms, emotionale Kälte und mangelnde Empathie im Elternhaus sowie deren Ursachen. Und es geht, vor desolatem familiärem Hintergrund, um die Lebensgeschichte des Autors selbst.

In alledem und darüber aber hinaus wirft er die Frage einer ganzen Generation nach sich selbst auf, nach den Bedingungen der eigenen Existenz und vor allem danach, wie ein gutes Leben zu erreichen sei, das nicht mehr vom Traumaschatten längst vergangener Untergänge gequält wird. Unger gehört der Generation der Babyboomer an, die die Jahrgänge zwischen 1960 und 1975 umfasst und die gern als gleichgültig, larmoyant und orientierungslos beschrieben wird. Die Suche nach ihrem generationalen Selbstverständnis bildet den übergeordneten Fokus dieser tiefgründigen Familiengeschichte.

Unger schildert einzelne Episoden, die bis zum Ersten Weltkrieg und dem U-Bootkrieg im Nordatlantik zurückreichen und das Leben sowie die Lebens- und Leidenserfahrung einzelner Familienmitglieder beleuchten. Er erzählt jedoch nicht in chronologischer Reihenfolge. Vielmehr verknüpft er die einzelnen Erzählstränge so miteinander, dass vor dem Auge des Lesers ein drei-Generationen-Porträt entsteht, das exemplarisch das gesamte Panoptikum deutscher Traumaproduktion veranschaulicht, welche das 20. Jahrhundert hervorbrachte. Er beleuchtet die Tragödie eines Volkes, das sich binnen weniger Jahrzehnte zweimal hintereinander in eine Weltkatastrophe hinein verführen ließ und dann mit den seelischen Folgen dieser Katastrophen nicht mehr klar gekommen ist. Sie nicht wahrhaben wollte und konnte. Bis die Nachkommen der Beteiligten, die Babyboomer realisierten, dass auch sie selbst im unsichtbaren Traumanetz ihrer Vorfahren gefangen sind, aus dem sie sich zuerst würden befreien müssen, bevor sie endlich ihr eigenes, eigentliches Leben gewinnen könnten.

Dieser Weg der Befreiung ist der Grundton in Ungers Erzählung. Seine Kraftformel, ihn zu meistern, findet er im Begriff Kriegsenkel. Im Grunde sind die Babyboomer der Sichtweise dieses Buches gemäß Kriegsenkel und -urenkel in Personalunion. Das Leben der Babyboomer wird nicht allein vom Verhältnis zu den Eltern geprägt, darauf macht sein drei-Generationen-Blick den Leser aufmerksam. Der weit gespannte Horizont des Buches, der gut ein Jahrhundert umfasst, erschließt die ungeheure Tiefendimension und jene Wirkkräfte, die sich hinter der Fachbezeichnung „transgenerationale Weitergabe kriegsbedingter Traumatisierungen“ verbergen. Eben dies macht das Buch neben seinen literarischen Qualitäten für Kriegsenkel so wertvoll: es ist die Präzision, mit der sein Autor die eigenen familiengeschichtlichen Zusammenhänge analysiert und auf diese Weise den essentiellen biographischen Prägungen einer ganzen Generation nachspürt.

Die Heimat der Wölfe sucht Antworten auf Fragen, die sich viele Kriegsenkel stellen, wenn sie die Lebensmitte erreichen und Bilanz ziehen: warum bin ich kinderlos geblieben? Wieso hat mein Leben diesen mäandernden Verlauf genommen, beruflich wie auch privat? Wo liegt mein Lebensort, wo gehöre ich hin? Was ist meine Aufgabe? In den Lebenswegen der Akteure dieses Romans findet der Leser eigene Erfahrungen gespiegelt. Das Schicksal von Ungers Angehörigen scheint auf als etwas Archetypisches, Modellhaftes, das dem Leser dazu verhilft, die eigene Biografie als „Kriegsenkel-Weg“ zu deuten und auf diese Weise gründlicher zu verstehen.

Man folgt den Schicksalen in Die Heimat der Wölfe mitunter mit angehaltenem Atem, manchmal auch amüsiert, häufiger erschrocken und gelegentlich auch entsetzt und erkennt sich in vielem wieder. Für den Protagonisten des Romans, den Autor Raymond Unger, war seine Spurensuche ein Weg ins eigene Leben. Mit Max Frisch resümiert er am Ende seines Buches: „Ein Mensch, der sich seines Traumas bewusst ist und der eine wirkliche Sinnfrage an das Leben zulässt, hat nur drei Möglichkeiten: Selbstmord, Sucht oder kreativer Ausdruck. In meiner Familie wurden alle drei Methoden praktiziert. Als Maler und Autor habe ich mich für die letzte der drei Möglichkeiten entschieden.“

Damit erweisen sich auch die Babyboomer alias Kriegsenkel zuletzt als weit mehr als nur bloße Opfer einer traumagebärenden Zeitepoche. Stellen sie sich ihrer Lebensgeschichte und deren Hintergründen, dann wandeln sie sich von hilflos Getriebenen auf dem unzähmbaren Strom der Geschichte zu Fährleuten, die ihr Lebensfloß gekonnt von einem Ufer zum gegenüber liegenden zu steuern vermögen. Nämlich von jenem Ufer, an dem die ererbten Traumata kumulieren und giftige Blasen werfen, wie Unger schreibt, an das helle Gestade, wo jenes Leben wartet, das ihnen eigentlich zugedacht ist. Dieses Buch ermutigt uns, die Überfahrt zu wagen.

Dem Band ist eine aufwändig ausgestattete Reproduktion des preisgekrönten Bildes von Raymond Unger, Paradise Lost, beigegeben. Kein anderes Gemälde, kein anderes Kunstwerk bringt das Wesen und die persönliche Tragik der Kriegsenkel-Erfahrung und damit das generationale Selbstverständnis der Babyboomer eindrücklicher auf den Punkt als dieses. Paradise Lost ist über den Kontext der Wölfe hinaus schlechthin das Kriegsenkel-Memorial unserer Zeit.

Dr. Joachim Süss

Herausgeber: Nebelkinder / Autor: Die entschlossene Generation

Über die Malerei (von Ralf Sziegoleit)

Ralf Sziegoleit, Journalist und Kunstkritiker, war jahrelang Chef des Kulturressorts der Frankenpost. Für seine Arbeit wurde er 2008 mit der Johann-Christian-Reinhart-Plakette der Stadt Hof ausgezeichnet.

Auf einen Blick ist zu erkennen, was den Maler thematisch im Besonderen interessiert: Gewalt, Tod und menschliche Not. Eine Not übrigens, die man gefälligst ertragen sollte, ohne zu klagen. Denn selber schuld ist der Mensch, jedenfalls dann, wenn man es aus religiöser Perspektive betrachtet. „Mea culpa“ heißt die Ausstellung, deren Titel dem Schuldbekenntnis der katholischen Kirche entnommen ist: „Ich bekenne, ich habe gesündigt …“ Das ist in diesem Fall allerdings ironisch zu verstehen. Raymond Unger ist ein Satiriker, seine Bildfindungen zeichnen sich aus durch schwarzen Humor. Mit seiner Kunst will er Verletzungen abarbeiten, die ihm selbst zugefügt wurden. Seine Kindheit verbrachte er in einer streng religiösen Familie mit orthodoxen Moralvorstellungen und extremer Sexualfeindlichkeit. Eben deshalb spielt neben Gewalt und Tod die Erotik eine wesentliche Rolle in seinen Bildern. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, wie Dr. Wolfram Benda, ein Hauptakteur unserer vor zehn Tagen beendeten Ausstellung „Aus Liebe zu Büchern“, sein wohlgemerkt eher traditionell geprägtes Schaffen charakterisierte: Als dessen Pole nannte er Erotik und Tod. Ohne diese beiden hätten die schönen Künste nach seinen Worten gar keine Basis. Raymond Unger setzt sich also mit Themen, die zentralen und existenziellen Stellenwert haben, kritisch auseinander. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei betont, dass die Darstellung von Gewalt in seinen Bildern keinesfalls eine Bejahung bedeutet. Er selbst sagt: „Man darf die Inhalte nicht 1:1 nehmen, sondern muss sie psychologisch übersetzen.“ So sind zum Beispiel die Knebelbälle in den Mündern einer Familie symbolhaft zu deuten – als Fesseln, die der Mensch sich selber anlegt. Und wenn Unger ein freundlich lächelndes Elternpaar mit einem Beil beziehungsweise einem Pfeil im Kopf zeigt, so ist damit gemeint, dass der Mann und die Frau Masken tragen und ihre Verletzungen verleugnen.

Der Künstler, der vor 50 Jahren in Hamburg geboren wurde, hat übrigens eine therapeutische und psychologische Ausbildung absolviert. Als Maler arbeitete er zunächst abstrakt und informell, ehe er  sich dem expressiven Realismus und seiner heutigen Thematik zuwandte. Handwerklich-technisch vollzog er eine Kehrtwendung, als er im Jahr 2004 den Malpinsel beiseite legte und beschloss, die Farbe nur noch mit dem Spachtel aufzutragen. Das ist seither das Ungersche Reinheitsgebot. Der Farbauftrag seiner Bilder erhält dadurch einen Charakter, der perfekt zu den Inhalten passt: Er wirkt rau, zerrissen, sogar brutal. Allerdings gelingen dem Künstler auch sehr feine Partien. Wichtig ist ihm, die Leinwand nicht zu verleugnen: Es handle sich, sagt er, schließlich um Malerei, nicht um Fotografie.

Von sehr vielen bildenden Künstlern wird heutzutage gesagt, dass sie eine Philosophie haben. Auf Raymond Unger trifft das tatsächlich zu. Er hat ausführliche Theorien entwickelt, die dazu führten, dass er vor einigen Jahren das Deutsche Forum für Remodernismus ins Leben rief. Er und seine Mitstreiter legen ihr Hauptaugenmerk auf Visionen und Emotionen. Die Überbetonung des Intellekts in der postmodernen Kunst begreifen sie als Irrweg, der die Kunst elitär, blutleer und schwer zugänglich macht. Vor allem will Unger als Maler selbstkonfrontativ arbeiten, das heißt, er strebt danach, sich mithilfe künstlerischer Prozesse selbst zu erkennen. „Während ich male“, sagt er, „will ich etwas erleben und zugleich etwas über mich selbst erfahren.“ Der Vorstand des Kunstvereins freut sich, dass wir seine Bilder nun bei uns haben. Denn auch wir können, wenn wir sie anschauen, eine ganze Menge erfahren und erleben.

Ralf Sziegoleit

Eröffnungsrede zur Ausstellung „Mea culpa“ 38 Arbeiten der Jahre 2009 – 2012 | Kunstverein Hof 2013

Interview mit Ralf Sziegoleit